Publizistischer Aufsatz
Im Laufe der Zeit haben wir uns daran gewöhnt, dass sie in unserer unmittelbaren Nähe leben.
Jetzt sorgt ihre Anwesenheit für keine Gefühlsbewegungen mehr, sie ist zur Normalität verkommen.
Wir interessieren uns nicht mehr für die Schicksale der Menschen, die wegen dem Krieg zu uns kommen mussten, der plötzlich mit Schüssen und Kanonen vom Himmel fiel.
Ich habe eine Freundin, die 2014 aus Sewerodonezk geflohen ist. Ich hatte aber nie das Interesse gehabt, zu erfahren, was sie jetzt empfindet. Wir sind zusammen in einer Band, ich spiele Schlagzeug und sie Gitarre. Wir hören gleiche Musik und auf der Bühne schlagen unsere Herzen im gleichen Rhythmus.
Eines jedoch werde ich nie ihr nachempfinden können: Den Abschied vom Zuhause.
An jenem Tag setzten wir uns in einem Lokal nach den Vorlesungen zusammen, bestellten den Kaffee. Ich holte meinen Notizblock und den Kugelschreiber heraus und… wurde ratlos. Nicht, weil ich nur wenige Fragen hatte. Umgekehrt, ich wollte alles wissen. Ich wollte, dass meine Ohren es tatsächlich hörten. Das Persönliche durfte nicht an mir abprallen.
Für den Anfang unseres Gesprächs wählte ich letztendlich das Thema „Zuhause“. Ich fragte: Wie sah es denn mit der Bleibe in der neuen Stadt aus? Ich dachte, dass ich ihre Antwort schon wüsste, da ich sie schon ziemlich lange kannte. Allerdings erzählte das Mädchen etwas, das ich überhaupt nicht zu hören erwartet habe. Bis zum diesen Tag habe ich mich daran gewöhnt, dass sie in einem mehrstöckigen Haus am Rande der Stadt wohnt. Wie ich mich wunderte, als ich erfuhr, dass am Anfang sie und ihre ganze Familie lange Zeit in einem überfüllten Heim verbrachten. „Als wir in die Wohnung umgezogen sind, waren dort nur blanke Wände, wir haben sie selbst renoviert. Mit der Zeit hat sich aber alles gefügt.“- sagte sie.
Das Mädchen erzählte, dass in der Schule sich alle ziemlich teilnahmslos ihr gegenüber verhielten, doch man passt sich mit der Zeit an, findet neue Bekanntschaften, danach neue Freunde. Auch sie fand einen Freund, einen einzigen in der gesamten Klasse. Der Junge spielt auch in unserer Band. Ehrlich gesagt bewundere ich solche Menschen. Die beiden zählte man zu Außenseitern, sie hielten dennoch immer zueinander, waren stolz darauf, sie selbst zu sein. Sich von den Anderen zu unterscheiden.
Eigentlich begegnet das Mädchen alldem mit Humor. Ihre unbezwingbare Lebensfreude kam immer wieder durch ihr Lächeln hindurch. Da verstand ich, dass diesen Menschen nichts herunterkriegen wird. Sie erzählte, sie hätte sich ganz einfach an die Topografie der neuen Stadt gewöhnt. „Ich bin doch ständig unterwegs. Ich war schon in solchen vergessenen Ecken, dass es hier alles sich wie ein großes Dorf anfühlt.“ Mit der Zeit verwandelte sich die feindliche, unbekannte Stadt zu einer herzlich brüderlichen. Sie drang tiefer und tiefer ihr ins Herz. Das Mädchen erinnerte sich, dass in Sewerodonezk sie nicht sie selbst sein konnte. Sie wurde nicht verstanden, die konservative Gesellschaft versuchte, alle über einen Kamm zu scheren. „Das ist eine Industriestadt, sie braucht Arbeiter und keine kreativen Persönlichkeiten wie uns.“
Wie ist es denn mit lieblichen Ausblicken und vertrauten Straßen? Mit den Plätzen, an die man sich gewöhnte? Mit denen, wo man seine Kindheit verbrachte?
Nach dieser Frage kamen ihre Augenbrauen zusammen. Eine Zeit lang saß sie nur da, starrte den Fußboden an und schwieg. Dann sagte sie: „Weißt du, Kiew ist Stadt-Tempo. Das Ukrainische New York. Dort jedoch ist es gemütlich, alles liegt in der Nähe. Man kennt sich, so haben wir gelebt.“
Ich hatte Recht, sie vermisste ihre Heimat. Nicht die Menschen, aber das Land, das man ihr wegnahm.
Im nächsten Augenblick kam ihr Lebensmut zurück.
„In Kiew dagegen lebt man nach den Werten, von denen man die ganze Zeit spricht. Hier gibt es Demokratie, hier darf man sich äußern und in seiner Denkweise frei sein. Man hat keine Angst davor, für Individualität bestraft zu werden. Man muss nicht vor denen, denen dein Aussehen nicht passt, wegrennen. Menschen werden zu dir angezogen, sie interessieren sich für dein Schicksal, sie fühlen mit. Genau so wie du gerade.“
Aus dem Lokal bin ich als anderer Mensch rausgekommen. Dieses Gespräch veränderte sehr vieles in mir. Während ich zu der Petscherska Metrostation marschierte, sah ich die Stadt mit neuen Augen. Ich war stolz darauf, dass wir Menschen Hoffnung geben. Dass wir sie nicht im Stich lassen. Ich verstand, dass wir noch einen sehr langen schwierigen Weg vor uns haben, nichtsdestotrotz gehen wir in die richtige Richtung. Wir nehmen Menschen wahr, die unsere Hilfe brauchen. Wir leben und arbeiten mit ihnen zusammen. Wir arbeiten daran, dass unsere Nachkommen ein besseres glücklicheres Leben führen können.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Viktoria Puskar