Jeden gottverdammten Tag ist es dasselbe. Er stand noch in der Dunkelheit, schlich lautlos durch den schmalen Gang zwischen seinem alten Sofa und Vaters Matratze, die auf dem Boden lag, und schritt in die Küche. Kaum etwas interessierte den Jungen außer Stille, Ruhe und Zeitschriften. Ja, die Zeitschriften. Aber er konnte seine Sammlung, die über hundert verschiedene Ausgaben betrug, nicht erweitern. Er hatte nur drei Hefte mit. Nicht mehr und nicht weniger. Nur drei. Sein persönlicher Schatz.
Der Vater wird noch lange schlafen, denn er kam erst vor anderthalb Stunden nach Hause. Er ließ wieder mal seine Stiefel in der Mitte des Flures fallen. Der Junge nahm im dämmernden Licht seine schweren Schuhe und stellte sie leise neben der Tür; erst dann konnte er sich in absoluter Ruhe der Arbeit widmen, die gestern liegen geblieben ist. Er würde nicht schlafen, wenn es nur ginge. Er würde weder essen, noch trinken, noch atmen. Er würde am liebsten nur seine Seele sein. Und diese Seele würde er jede Minute füttern – langsam, ruhig, bedacht, dennoch unaufhörlich. Er bräuchte keine Pausen. Er saugte die Information so intensiv auf, als ob er ohne sie ersticken würde, als ob sein Hirn keinen Sauerstoff, sondern einen Gedankenstrom brauchte, der wie ein wilder Blitz in seinen ganz gewöhnlichen Kopf rauschte. Und nun tat es genau das.
Wer ist dran? Böll. Der Nachbar entpuppte sich als ein sehr lieber Mensch: Er hat ihn gleich am ersten Tag in seine Wohnung rein gelassen und erlaubte, jedes Buch aus seiner großen Bibliothek zu nehmen. Der Junge war danach ziemlich oft dort. Was aber dieses Buch betrifft… Eine ziemlich langweilige Geschichte, voll von unnützen, viel zu unpraktischen und doch so wundervollen Details. Das Universum mag wissen, wie dieser verfluchte Böll es überhaupt vermochte, so zu schreiben. Und das Blödeste dabei war, dass es einen nicht mehr los ließ. Jedes Mal verspürte er den Wunsch, in jenem kleinen Zimmer auf dem Hocker zu sitzen, gegenüber von dieser seltsamen, dabei aber sogar für ihr Alter recht attraktiven Frau namens Pfeiffer. Was erzählt sie da? Vielleicht sind ihre Sorgen noch schlimmer, wer weiß.
Er sprang auf. Er hatte schon wieder vergessen, zu essen und ließ die Arbeit im Haushalt unerledigt liegen. Von gestern blieb nur noch wenig Essen übrig, er schaute die kleine Portion Buchweizenbrei mit ein Stück Hähnchen nicht einmal an. Ihm ist übel, da er seit gestern nichts gegessen hatte. Und jetzt muss er zur Schule. Wie selbstverständlich steckte er die Hand in Vaters Hose, nahm dort einige kleine Geldscheine raus, wobei er seine Bedürfnisse sehr knapp kalkulierte, schob Bücher und Hefte in den Rucksack und rief sich aus dem Gedächtnis den heutigen Stundenplan in Erinnerung. Er hatte immer etwas vergessen, aber dies hat ihn kein einziges Mal dazu bewogen, sich rechtzeitig vorzubereiten.
Er war schon in der Gasse, als es ihm klar wurde, dass er die Tür offen gelassen hatte. Er kehrte um, rannte hastig die rutschigen Stufen hinauf und wäre dabei um ein Haar hingefallen. Jedoch schaffte er es noch gerade, sich am Geländer festzuhalten und so das Gleichgewicht zu bewahren. Nachdem der Schlüssel zu letzten Mal umgedreht war, konnte er beruhigt zur Schule gehen, wenn man die zehn Minuten Verspätung außer Acht lässt. Es würde nicht gut enden.
Er kam an, als es noch zehn Minuten bis zum Ende der ersten Stunde waren. Noch ein wenig Ruhe. Er mochte die Korridore seiner Schule. Sie waren ruhig, aus dem bewölkten Himmel kaum beleuchtet, leer und absolut friedlich. Kein Krach, kein Schrei, überhaupt kein Ton. Solche Minuten gaben ihm einen kleinen, kaum bemerkbaren aber doch so wichtigen Energieschub.
Immer wenn er in der Klasse auftauchte, begannen die anderen, Grüppchen zu bilden und auseinander zu gehen. Er setzte sich seelenruhig neben ein Mädchen, das gelegentlich mit ihm sprach. Diesmal schwieg sie.
„Warum ist es so still?“, fragte er leise.
„Sie hat nach dir gesucht. Sie fürchtete, du hättest wieder beschlossen…“
„Beschlossen, von hier weg zu gehen.“
„Genau“, antwortete sie, „Sag mal ehrlich, hast du wieder nicht geschlafen?“
„Kaum.“
„Du schadest doch dir selbst. Vielleicht ist die Idee mit dem Psychologen gar nicht mal so schlecht?“
„Am Schlimmsten schadete ich mir selbst, als ich einwilligte, hierher zu ziehen.“
„Hier bist du in Sicherheit.“
„Aber dort bin ich zu Hause. Und mein Leben ist das Letzte, was mich gerade interessiert.“
Sie streckte die Hand zu seiner Schulter und wollte ihn leicht berühren, aber er schreckte reflexartig zurück und fasste ihre schmalen Finger mit seiner festen Hand.
„Ist doch alles ok, was hast du denn?“, – sie war sehr verängstigt.
„Rühre mich nicht an.“
„Hände weg von ihr, du Pfeife!“
Diese verdammten Retter sind immer da, wenn es um ein hübsches Mädchen und einen aggressiven Jungen geht. Er schaffte es nicht einmal sich umzudrehen, als er mit einem präzisen Schlag auf die Augenbraue auf den Tisch hingeknallt wurde. Das Blut bahnte sich einen Weg zu seinem Auge und verdeckte es so, dass er nichts sehen konnte. Er versuchte sich zu umdrehen und aufstehen und – bekam noch einen Schlag in den Bauch. Komplett niedergeschmettert fiel er auf den Boden und versuchte außer dem Pulsieren in seinem Kopf noch etwas um sich herum wahrzunehmen. Er spürte keinen Schmerz, lediglich ein Unvermögen aufzustehen und seinem Gegner endlich ins Gesicht zu schauen. Das Mädchen schrie, man solle ihn in Ruhe lassen.
„Na, wie gefällt dir das? Hier gibt es weder humanitäre Hilfe, noch liebe Soldaten und auch keine Idioten, die dich für ein Opfer halten!“
Der Vater kam erst dann an, als er bereits beim Psychologen war. Er, das Mädchen, sein Vater, der Typ und der Psychologe. Er konnte sich nicht erinnern, wie er dorthin gelang. Vielleicht wollte er sich nicht daran erinnern.
„Du bist ein unmögliches und undankbares Miststück! Diese Menschen haben für dich so viel getan, sie haben uns so sehr nach dem Umzug geholfen und du…“
Das Mädchen weinte leise. Nachdem sie das Zimmer betraten, starrte sie der Junge murrend an, ohne seinen Blick abzuwenden. Es hat bereits aufgehört zu bluten. Dem Psychologen war es offensichtlich egal, wie alles ausgehen wird. Der Vater drehte durch. Und er… Er wollte nur seine Ruhe.
„Bring mich zurück nach Hause. Weit weg von diesen Biestern.“
„Was sagst du?“, der Vater war schockiert.
„Ich sagte, ich muss zurück nach Hause. Dorthin, wo meine Mutter starb. Dorthin, wo die Schlacht war. Dorthin, wo ich hingehöre!“
Sein letzter Aufschrei füllte das Zimmer und hallte mit voller Wucht durch die Flure. Wahrscheinlich würde jeden gottverdammten Tag immer nur dasselbe geschehen.
Übersetzung aus dem Ukrainischen: Anna Olshevska